Richtung Norden

Ich stehe auf einem kleinen Bahnhof Richtung Norden. Irgendwo im Niemandsland. Da, wo nichts ist. Da, wo ich meinen Herzschlag pochend in meinem Körper fühle, weil es so still ist. Ich höre meinen Herzschlag. Ich lausche nach innen. Macht mir das Angst? Ein bisschen. Manchmal macht es einem Angst, wenn man sich selbst so nah ist. Wenn es keine Ablenkung und keine Fremdgeräusche gibt. Das Herz schlägt. Ich höre dem Rhythmus zu. Höre und spüre die Extrasystole, die mir mal ein Arzt bestätigt hat. Das heißt, dass mein Herz zwischendurch mal hüpft und die Richtung ändert. Einfach so. Vermutlich hat es Lust darauf etwas Neues auszuprobieren. Das Herz schlägt. Mein Atem ist eine Winterwolke vor meinem Gesicht und treibt davon. Ich schaue meiner Atemwolke nach, wie sie von dannen zieht. Ich erinnere mich an damals, wo ich so krank war, dass ich mich kaum bewegen konnte, und so zerbrechlich war wie ein Streichholz. Knacks und durch. Ich erinnere mich, wie ich mich damals, in meinem schwachen Zustand, Richtung Norden sehnte. Wie groß die Sehnsucht in meinem Herzen war. Wie sehr mich eine innere Stimme rief aufzubrechen in den hohen Norden. Nordschweden, Lappland, Finnland. Ich sehnte mich von ganzem Herzen nach Schnee, klirrender Kälte und Polarlichtern. Nach zugefrorenen Seen und Schlittschuhlaufenden Füchsen. Nach knackendem Ofenfeuer und einem heißen Becher Kaffee in der Hand. Nach der fremden Sprache, die ich nicht verstand, aber die sich so sehr nach Heimat anfühlte. Da lag ich nun mit meiner Sehnsucht, zu schwach um überhaupt bis zum nächstliegenden Bahnhof zu kommen, und doch diese unbändige Sehnsucht, die ich in meinem ganzen Körper spüren konnte. Familie und Freunde meinten, dass ich dort in meinem Zustand verhungern und erfrieren würde, aber die Sehnsucht nach dem Norden blieb. Auch wenn ich die Reise nicht antreten konnte, ich träumte vom hohen Norden. Hörte die Melodie der Natur und lies innere Bilder vor meinen geschlossenen Augen vorbei ziehen. Ich war in der großen Kälte. Der Nierenkälte. Der Winter und auch der Norden gehören in der chinesischen Medizin zum Organ Niere. Die Stille des Nichts. Ich war in diesem Nichts. Eine lange Zeit war ich da. Mir war kalt, und ich dachte daran, dass mir gesagt wurde, dass ich dort erfrieren würde, wenn ich dort hinginge. Ich versetzte mich in meinen Gedanken und meiner Energie zu meinem Sehnsuchtsort, dem hohen Norden. Und ich spürte sie, die beißende Kälte, dich mich dort empfang. Und gleichzeitig merkte ich, wie in mir das Feuer erwachte und meinen inneren Ofen wieder zum Brennen aufforderte und es zu knistern begann. Ich setzte der äußeren Kälte etwas entgegen. Und wie sehr es in mir auf einmal anfing sich zu bewegen. Lebendigkeit. In meinem ganzen Körper tanzte es innerlich. Mein innerer Ofen brannte wieder. Er wurde durch die äußere Kälte fast provoziert ordentlich nach zu feuern. Meine Wangen wurden rot und ich fühlte nach sehr langer Zeit wieder Leben in mir. Es tanzte in mir, und wie es tanzte und sich drehte mitten im kalten Schnee. Atmen. Mein Kopf ging nach hinten und lies Schneeflocken in mein Gesicht wirbeln. Es fühlte sich an wie eine Neugeburt mitten in dieser eisigen Kälte im hohen Norden. Ich hatte damals keine Möglichkeit in den hohen Norden zu fahren, aber ich schaffte es, mich mit meiner Energie an diesen Ort zu bringen. Der Wunsch und die Sehnsucht in mir war so groß, so groß, so dass ich die Kraft fand, diese innere Reise anzutreten. All meine Intuition wusste es. Dieser Ort wird mir helfen, dieser Ort wird mir helfen, wieder neue Lebenskraft und Zuversicht zu finden. Ich weiß nicht, was es war, dass mich so intensiv rief. Ich hatte damals noch keine Erfahrung mit chinesischer Medizin und der dazugehörigen Lehre und Philosophie. Die Verbindung mit dem Norden trug damals viel dazu bei, wieder Lebensmut zu finden. Weiterzumachen. Gesund zu werden. Wenn es um dich herum so kalt ist, dann bleibt dir gar nichts anderes übrig, als dich zu bewegen, und mag es auch nur innerlich sein. Ich lernte viel über den Ausgleich in dieser Zeit. Und was in uns für eine  Kraft ist, dieses zu bewirken. Der Wille dazu. Der Wille war stark. Das daran glauben. Das Unmögliche zu schaffen. Sich nicht davon abbringen zu lassen. Ganz in der Ruhe, aber mit Konzentration und "dran bleiben". Lange hat es gedauert, lange, bis die Kraft, die sich von innen in mir aufbaute, nach außen floss. Aber das machte nichts. Die Zeit war nicht mehr so wichtig in meinem Leben. Da war etwas in mir, was wollte. Der jahrelange Prozess, in dem ich mich damals befand, hat mich so viel gelehrt. Er hat mich mir selbst so nah gebracht. Gnadenlos, aber sehr sehr ehrlich. Die Zeit ist heute wie eine Erinnerung bei mir und lehrt mich immer wieder, nicht aufzugeben, weiterzumachen und an all das Unmögliche zu glauben. Eine Zeit, die wie ein Samen tief in mir verankert ist. Eine gespeicherte Erfahrung, an die ich immer wieder andocken kann, um damit mich und auch andere Menschen in Berührung zu bringen. Jeder Mensch hat seine ureigene Aufgabe, an der er wachsen, lernen und üben kann. Wir können uns für den Weg entscheiden, diese Aufgabe zu verteufeln, unter ihr zu leiden und mit ihr zu kämpfen, oder für den Weg, sie voll und ganz zu akzeptieren. Sie richtig anzupacken. Die Angst davor zu verlieren und das Beste daraus zu machen. Deine Aufgabe lehrt dich so viel, wenn du sie annehmen kannst und anfängst, sie zu bewegen. Das, was du an deiner Aufgabe lernst, ist ein riesiger Schatz, der durch deine Erfahrungen damit auch anderen Menschen helfen kann, wenn du sie daran teilhaben lässt. Es gibt immer Schatten und Licht. Immer. Und gerade im Schatten ist soviel zu lernen und zu entdecken. Hab keine Angst davor. Bringe Licht in diesen Bereich und schau es dir an. Verliere die Angst vor dem, was dir so sehr Angst macht. Angst hat oft mit Starre zu tun. Lebensstarre. Tanze deiner Angst entgegen und singe mit ihr. Bewege deinen Körper und guck mal, ob da Töne aus deinem Inneren heraus wollen. Nur für dich. Was ist bei dir? Kannst du deinen inneren Ofen spüren? Was braucht es, um ihn wieder ins Lodern zu bringen? Der Winter ist eine so gute Zeit, um nach innen zu spüren, in der Stille, ganz bei dir. Die innere Bewegung zu fühlen, um sie dann im nächsten Frühjahr nach außen fließen zu lassen. Der Winter ist Rückzug und Vorbereitung. Eine Zeit, in der du dir so nah kommen kannst und vielleicht erspüren kannst, wohin du deine nächsten Schritte setzten willst. Alles ist ausprobieren und entdecken. Das Leben ist da, um ausprobiert zu werden. Das Leben ist da, um es zu kosten und zu erspüren. Das Leben ist da, um Erfahrungen zu machen und diese zu teilen. Das Leben ist da, um dir selbst näher zu kommen. Und der Winter ist da, um uns zu helfen, den Kontakt zu uns selbst zu stärken und dich mit deinen Ahnen zu verbinden, die dich auf unsichtbarer Ebene bei deiner Reise unterstützen können, wenn du es willst. Ein großes Familienfest der sichtbaren und unsichtbaren Verbindungen. Wohin geht deine Reise? Meine Atemluft zieht in Winterwolken von dannen. Ich wünsche dir einen inspirierenden Winter!